Ihr Lieben,
wo war ich stehen geblieben? Der
Unabhängigkeitstag!
In Estland gibt es eigentlich sogar zwei davon. (Achtung, nun folgt Geschichte!) Als erster Unabhängigkeitstag gilt der
24. Februar, denn an diesem Tag im Jahr 1918 erklärte eine provisorisch gebildete Regierung in Estland dessen Unabhängigkeit von Russland und dem Deutschen Reich. Es brauchte noch einen 2-jährigen Freiheitskrieg, bis das Ganze offiziell anerkannt wurde, aber nichts desto trotz ein feierwürdiges Datum! Doch nur 20 Jahre später sollten die Esten ihre Unabhängigkeit schon wieder verlieren. Denn 1940 besetzte die Sowjetunion das Land, kurz darauf übernahm Nazi-Deutschland. Viele flohen in dieser Zeit aus dem Land, viele andere wurden deportiert oder gar ermordet. 1944 gehörte Estland wieder ganz der Sowjetunion an und es wurden erneut Tausende nach Sibirien deportiert. Weitere 43 Jahre vergingen und die Bevölkerung Estlands begann mit einer friedlichen Revolution zur Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit. Friedlich kämpfen heißt hier in Estland: Singen! Viel Singen. Laut singen. Alle gemeinsam. Man sang traditionelle Volkslieder auf öffentlichen Plätzen und in großen Stadien und die Bevölkerung der Baltischen Staaten bildete eine Menschenkette über 600km von Tallinn in Estland über Riga in Lettland bis Vilnius in Litauen. Das Ganze nennt sich heute die "Singing Revolution" und bekommt meinen allergrößten Respekt, denn ein ganzes Land, das sich nach solch dunkler Geschichte gemeinsam in die Unabhängigkeit singt, verdient einfach Respekt. Doch so friedlich sollte es nicht bleiben, denn 1990 und 91 kam es schließlich zu blutigen Auseinandersetzungen mit sowjetischen Einheiten in Vilnius und Riga und die Menschen in Tallinn befürchteten ähnliches. Nach einem gescheiterten Putsch in Moskau am 20. August verging für Estlands Bürger eine Nacht voller Angst vor Angriffen, doch schlussendlich wurde die völlige Unabhängigkeit Estlands sowie auch Lettlands und Litauens anerkannt. Daher gilt auch der
20. August als Tag der (wiedererlangten) Unabhängigkeit.
Und dies führte uns schließlich am Sonntagmorgen um 7 Uhr zum Platz der Freiheit in Tallinn, von wo aus wir auf den Domberg bis zum Regierungsgebäude liefen. Vom Schlosspark aus kann man hier alljährlich beobachten, wie auf einem der Türme die estnische Flagge gehisst wird während die Nationalhymne spielt. (Übrigens: die estnische und die finnische Nationalhymne haben dieselbe Melodie - Estland hat hier geklaut.) Unsere Lehrerinnen Sirli und Kadri meinten, dass viele Leute kommen würden, um sich die Zeremonie anzuschauen.
Viele patriotische Leute...
Naja, letztendlich waren wir da. Wir 10 + unsere 2 Lehrerinnen. Und noch 3 weitere Bürger von Tallinn. Und der Schlosspark durfte wegen Bauarbeiten nicht betreten werden. Aber hey, nun waren wir da und konnten dem Mann, der Punkt 7 Uhr anfing, zur Hymne die Flagge zu hissen, zumindest das Gefühl geben, nicht umsonst so früh aufgestanden zu sein. Und immerhin konnten wir an diesem Morgen noch ein paar schöne Fotos von der menschenleeren Stadt machen.
Nachdem Sabine und ich uns schließlich nochmal 2 Stunden Schlaf abgeholt hatten, gingen wir um 11 Uhr zu einer Wohnungsbesichtigung zurück in die Altstadt. Ich hatte die Wohnung ein paar Tage zuvor im Internet gefunden und direkt am nächsten Tag eine Antwort von der Vermieterin erhalten. Und tja, was soll ich euch sagen.. Die Vermieterin spricht Deutsch. ;-) Sie ist Estin, hat aber einen deutschen Mann und viele Jahre in Deutschland gelebt. Gut für uns, denn die Wohnung gefiel uns gleich total gut und ist super gelegen. Wir müssen zwar etwas mehr Miete zahlen als in Leipzig, aber das ist es uns wert. Denn hier haben wir ab nächstem Freitag eine komplett neue Küche mit Spülmaschine, ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer mit Schlafcouch - ihr könnt uns also problemlos besuchen kommen! ;-)
Da der letzte Sonntag auch einen Sonnentag war, sind wir schließlich noch zum Pirita Beach gefahren, wo wir ein Tretboot ausgeliehen haben, am Strand spazieren waren und einen fantastischen Blick auf die ganze Stadt hatten.
Die Woche war dann gefüllt von Sprachunterricht, Museumsbesuchen und Regen-Sonne-Mix. Montag haben wir einiges über das Tanzen in Estland und das große Tanzfestival hier gelernt - bis zwei Tänzer in unseren Unterricht kamen und wir letztendlich auch noch
selbst einen traditionellen estnischen Tanz lernen mussten. Mittwoch nach dem Unterricht waren wir im alten Wasserflugzeughafen ("Lennusadam"). Die schon fast völlig zerstörten Hallen dort wurden 2010-2012 aufwendig renoviert und beherbergen heute das beeindruckende und sehr moderne Meeresmuseum. Am Kai liegt außerdem die stillgelegte "Suur Tõll", die einst als Eisbrecher auf der Ostsee unterwegs war und nun als Museumsschiff dient. Donnerstagnachmittag erwartete uns dann eine Schnitzeljagd durch die Stadt, für die wir in zwei Teams geteilt wurden und anhand von Bildern und Hinweisen Orte finden und uns dort fotografieren oder Fragen beantworten sollten. Zum Glück schien an diesem Tag die Sonne, so dass wir viel Spaß hatten und die Altstadt noch etwas besser kennenlernen konnten. Mein Team hat zwar verloren, aber "dabei sein ist alles", wie die Verlierer ja bekanntlich gern sagen... Am Freitagnachmittag stand dann Museumsbesuch Nr. 2 in dieser Woche auf dem Plan. Dieses Mal führte uns Kadri, die Sirli Mitte der Woche in ihrer Pflicht als Sprachlehrerin abgelöst hat, ins Geschichtsmuseum. Dort durften wir noch einiges mehr über die estnische Geschichte lernen und waren auch hier wieder beeindruckt von der vielen Arbeit, die in das Museum gesteckt wurde, und von der Liebe zum Detail. Da der Freitagabend dann sehr verregnet war, beschlossen Sabine und ich unausgesprochen, einfach zu Hause zu bleiben und den Abend mit Serien Schauen zu verbringen.
Am heutigen Samstag ist in Tallinn einiges los. Zum einen ist Kulturnacht ("Kulturiööd") in der Altstadt, wo an verschiedenen Standorten Musiker auftreten. Vom
ESC 2012 Teilnehmer Ott Leppland (dessen Lied wir etliche Male im Unterricht singen mussten) bis hin zum Kammerorchester. Zum anderen findet an mehreren Orten im Hafen die "Night of Ancient Bonfires" statt. Hier werden nicht nur in Estland, sondern auch in Lettland, Finnland und Schweden entlang der Ostseeküste Lagerfeuer gemacht, um traditionell der Bedeutung des Meeres zu gedenken, das die Bürger der Länder miteinander verbindet und sie beschützt.
Und apropos traditionell...
Vorhin habe ich über die "Singing Revolution" erzählt und auch heute gibt es hierzulande noch viele Sing- und auch Tanz-Festivals, zu denen Tausende von Esten und Touristen kommen. Das bekannteste und größte ist das Liederfest, das alle 5 Jahre in Tallinn stattfindet ("Laulupidu") und zu dem ca. 150.000 Besucher kommen.
Hier ein Video vom Laulupidu 2014. :)
Wir sind gespannt, wie unser Abend wird und hoffen, dass uns der Regen heute weiterhin verschont.
Habt ein schönes Wochenende! :)